Natalya Nepomnyashcha wurde in der Ukraine geboren und wuchs in Bayern auf. Obwohl sie gute Noten hatte, durfte sie nicht aufs Gymnasium. Ohne Abitur und über Umwege studierte sie in Großbritannien. Weil ihre Herkunft ihr auch im Berufsleben im Weg war, gründete sie 2016 „Netzwerk Chancen“, eine Initiative, die Menschen aus finanzschwachen oder bildungsfernen Familien beim beruflichen Aufstieg helfen soll. 2019 wurde Natalya Nepomnyashcha von der Businessplattform LinkedIn als eine von „25 Top-Voices“ im deutschsprachigen Raum ausgezeichnet, weil sie mit ihren Beiträgen wichtige gesellschaftliche Debatten anstößt.
Von Astrid Zehbe
2016 hast du das „Netzwerk Chancen“ gegründet, um Kindern aus finanzschwachen oder bildungsfernen Familien zum Aufstieg zu verhelfen. Warum?
Natalya Nepomnyashcha: Ich komme selbst aus einer Hartz-IV-Familie und habe einen Migrationshintergrund. Ich habe sehr lange gebraucht, um einen Job zu finden: Als Hartz-IV-Kind hatte ich keine Kontakte, keine tollen Praktika im Lebenslauf und konnte mich auch nicht sonderlich gut verkaufen. Dies waren nur einige Steine auf meinem Bildungsweg. Mit Netzwerk Chancen wollte ich also dafür kämpfen, dass die soziale Herkunft keinen Einfluss auf die Chancen jedes Einzelnen hat.
Wie sieht die Unterstützung von „Netzwerk Chancen“ konkret aus?
Wir verfolgen mit „Netzwerk Chancen“ zwei Ansätze: Zum einen bringen wir zivilgesellschaftliche Organisationen und Politiker zusammen, um gemeinsam nachhaltige Lösungen für gleiche Bildungschancen zu erarbeiten. Zum anderen bieten wir jungen Menschen aus finanzschwachen oder bildungsfernen Familien konkrete Hilfe wie Workshops zu Themen wie Rhetorik, Networking oder Karriereplanung. Zudem ermöglichen wir den Austausch mit anderen Aufsteigern und vermitteln Arbeitgeber-Kontakte.
„Die soziale Herkunft wird noch nicht als Diversity-Faktor anerkannt“
Viele Unternehmen sind bemüht, ihre Teams vielseitig aufzustellen, was Alter, Herkunft oder Geschlecht angeht. Wird der soziale Aufstieg dadurch künftig leichter?
Unternehmen erkennen die soziale Herkunft leider noch nicht als Diversity-Faktor an. Soziale Aufsteiger werden nicht als wertvolle Mitarbeiter betrachtet, obwohl sie hart gearbeitet haben, um ihre Startnachteile auszugleichen und dementsprechend durchsetzungsstark und lösungsorientiert sind.
Was sind die größten Hürden, die es für sozial benachteiligte Menschen zu überwinden gilt?
Im Grunde fehlen sozialen Aufsteigern drei Sachen: Kontakte, Informationen, Selbstbewusstsein. Wer in prekären Verhältnissen aufwächst, hat nicht das Netzwerk, welches in sehr vielen Branchen unabdingbar ist, um Karriere zu machen. Denn viele Jobs werden über Vitamin B vergeben. Auch weiß man nicht, wohin man sich am besten wendet, wenn man ein gutes Praktikum sucht. Man hat sicher gehört, dass Praktika wichtig sind, doch welches sieht auf dem Lebenslauf wirklich gut aus und bringt einen weiter? Da sie häufig unsicher sind, wohin sie gehen können oder was sie sagen sollen, haben junge Menschen aus benachteiligten Verhältnissen selten ein sicheres Auftreten. Dabei ist genau das essenziell, wenn man beruflich vorankommen möchte.
Wie können Menschen, die nur wenig finanzielle Mittel haben, ihre Karrierechancen verbessern?
Ganz konkret seine Karrierechancen kann man verbessern, indem man sein Netzwerk erweitert. Zum einen werden viele Jobs ohne Ausschreibungen vergeben, zum anderen hat man bessere Chancen auf eine Stelle, wenn man empfohlen wird. Das Netzwerk erweitern kann man sehr gut entweder über ehrenamtliches Engagement in dem Bereich, der einen interessiert, oder über Events. In jeder größeren Stadt gibt es Abendveranstaltungen zu allen möglichen Themen, die von Berufsverbänden, Unternehmen oder einfach interessierten Gruppen organisiert werden. Sie sind oft kostenlos und bieten zum Abschluss stets einen ungezwungenen Teil, in dessen Rahmen man sich bei einem Getränk mit anderen Teilnehmern unterhalten kann.
„Denen wollte ich’s zeigen!“
Wie sieht es mit kostenlosen oder günstigen Bildungsmöglichkeiten aus?
Wenn es um konkretes Wissen geht, findet man online kostenlose Kurse zu so gut wie allen Themen. Ebenso kann man sich sehr günstig an der Volkshochschule fortbilden. Für prestigeträchtige Ausbildungen wie den MBA gibt es Stipendien, um die man sich bewerben kann.
Wie koordinierst du Netzwerk Chancen und deinen Hauptjob?
Priorisieren ist hier das A und O. Anfallende Aufgaben erledige ich entweder abends oder am Wochenende. Bevor ich allerdings zusage, etwas zu erledigen, überlege ich, ob sich meine Zeit auch in einem Output niederschlagen wird. Es wichtig, auch nein sagen zu können und sich auf die wirklich wichtigen Aufgaben zu konzentrieren. Alles andere sollte man wegdeligieren oder absagen. Denn: Je erfolgreicher man wird, desto mehr Leute wollen auch was von einem. Das musste ich auch erstmal lernen.
Was bedeutet es dir, eine von 25 LinkedIn-Voices 2019 geworden zu sein?
Als ich die Nachricht erhalten habe, war ich überwältigt. Für ein Mädchen aus einem Hartz IV-Haushalt und eine Sozialunternehmerin ist es eine große Ehre. Ich dachte immer, man müsste Chef eines Konzerns sein oder ein Wirtschaftswissenschaftler, der businessrelevante Entwicklungen voraussagt, um auf diese Liste zu kommen. Mich selbst habe ich nie für wichtig genug gehalten. Zumal ich in meinen Beiträgen vor allem über Chancengleichheit von Menschen aus prekären Verhältnissen schreibe und darüber, warum soziale Herkunft ein Diversity-Faktor ist. Ich dachte nie, dass es Themen sein würden, die so viele LinkedIn-Nutzer bewegen.
Was hat dich selbst motiviert, dich nicht unterkriegen zu lassen und stattdessen alternative Bildungswege zu finden?
Eine gesunde Wut hat mir geholfen. Schon als Kind war ich wütend, dass ich nicht aufs Gymnasium durfte. Ich hatte doch gute Noten! Nach der 9. Klasse hatte ich einen Notenschnitt von 1,3 und habe auf eigene Faust versucht, auf ein Gymnasium zu wechseln, wurde jedoch abgelehnt. Denen wollte ich’s zeigen! Das hat dazu geführt, dass ich hart gearbeitet habe und so den Glauben an mich selbst gewann. In dieser Zeit hat mich das Buch „Martin Eden“ von Jack London inspiriert.
Worum geht es in dem Buch?
Es handelt von einem jungen Mann aus armen Verhältnissen, der Tag und Nacht arbeitet, um sich fortzubilden und sich seine Träume zu erfüllen. Bei der Jobsuche habe ich dann auch mehrmals gehört, dass ich nicht gut genug sei. Das kann einen brechen. Doch ich wollte nicht aufgeben und dafür kämpfen, dass diese Leute noch von mir hören.
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