Das seelische Gleichgewicht gerät aus dem Lot. Seit der Pandemie häufiger als zuvor. So nahm die Zahl der psychischen Erkrankungen in Deutschland um 17 Prozent zu. Viele hadern mit dunklen Stunden, Ängsten oder dem Gefühl, ausgebrannt zu sein. Brauche ich Hilfe, fragen sich nicht wenige.
Von Michaela Stemper
Depressionen und Ängste sind ein weites Feld sind und nicht mit ein bisschen Blues abgetan. Die rund fünf Millionen Menschen, die in Deutschland an Depressionen leiden, erleben verschiedenste Ausprägungen, erzählt die Frankfurter Psychologin Dr. Yvonne Keßel: Von der depressiven Episode, von der vermutet wird, dass sie genetisch bedingt ist bis hin zur sogenannten Erschöpfungsdepression. Ausgelöst durch anstrenge Arbeits- oder Lebensbedingungen. In diesem Zusammenhang wird häufig von Burnout gesprochen. „Gerade in den letzten zwei Jahren hat dieses ‚ich kann einfach nicht mehr‘ zugenommen“, stellt Keßel fest.
Angststörungen
Ängste kommen in unserer Gesellschaft häufig vor. Das variiert von Panikattacken bis zu generalisierten Angststörungen oder Zwängen. Panik ist eine isolierte, sehr intensive Angst. Eine bestimmte Situation, etwa die Nutzung von Bus und Bahn, löst starke Furcht aus. Dabei handelt es sich meist um eine Umgebung, in der die Fluchtmöglichkeiten begrenzt sind.
Bei der generalisierten Angststörung hingegen ist das Stresslevel geringer. Dafür machen sich Betroffene über vieles im Leben kontinuierlich Sorgen: Werde ich meinen Job behalten? Kann ich die Familie versorgen? Fragen, die sich sicherlich jede:r mal stellt. „Aber bei der generalisierten Angststörung bestimmen diese Gedanken den gesamten Tag und verursachen einen hohen Leidensdruck. Eine Sorge reiht sich an die nächste“, erklärt die Expertin. Gerade generalisierte Angststörungen träten häufig gepaart mit depressiven Episoden auf.
Wenn aus traurig, depressiv wird …
Natürlich hat jede:r mal einen schlechten Tag oder weint, weil einfach alles schiefgeht. Wie erkenne ich aber, dass es ernst ist? Und man sich psychologische Hilfe suchen sollte? „Wenn die Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit in einem Zeitraum von zwei Wochen jeden Tag auftritt. Wechselt sich der durchweg negative nicht mehr mit einem positiven Gemütszustand ab, ist es Zeit, sich in professionelle Hände zu begeben“, rät Keßel. So könne man einer Depression auf die Spur kommen. Wobei die Übergänge fließend sind. Ein guter Tag zwischendurch ist zum Beispiel ein Indiz dafür, dass die Person noch über Reserven verfügt.
Der Burn-out
„Typisch für Menschen, die in Erschöpfungszustände hineingeraten, ist eine perfektionistische Haltung. Der hohe Leistungsanspruch steht dann dem Gefühl gegenüber, einfach nicht mehr zu könnten“, berichtet Keßel aus der Praxis, „Ein Phänomen, dessen Wurzel im Elternhaus liegen. Der Gedanke, man ist nur etwas wert, wenn man viel leistet, begleitet eine ganze Generation. Wenn der Selbstwert mit der Leistung verknüpft wird, ist das ein starker Antreiber.“
Häufig reagierten Betroffene zunächst so, dass sie sich noch mehr zusammenrissen oder besser organisierten. „Der Versuch, die Erschöpfung auszugleichen, funktioniert aber auf Dauer nicht“, weiß die Frankfurter Psychologin. Irgendwann tritt ein Erschöpfungszustand ein, in dem es nicht einmal mehr möglich ist, aufzustehen. Auch auf zusätzliche Anzeichen sollte man achten: Wer alles vernachlässigt, was Freude bereitet, ist gefährdet. Zum Beispiel soziale Kontakte oder den geliebten Sport.
„Der Ethos ‚erst die Arbeit, dann das Vergnügen‘ ist psychologischer Unsinn. Sich selbst an die erste Stelle zu setzen und zuzusehen, dass es einem wieder gutgeht, ist enorm wichtig in dieser Situation“, rät die Diplom Psychologin.
Der erste Schritt
Wer Panik, Angst oder traurige Phasen verspürt, sollte seine:n Hausarzt:in aufsuchen. Der Weg dorthin fällt oft leichter, als zum Facharzt zu gehen. Er oder sie kann zudem abklären, ob sich hinter dem Gemütszustand eine körperliche Ursache verbirgt. Beispielsweise kann eine Schilddrüsenunterfunktion zu Verstimmungen führen.
Wer sich hingegen sicher ist, psychotherapeutische Hilfe zu benötigen, kann selbst aktiv werden. Adressen findet man im Internet oder über die Krankenkasse. „Ich möchte gerne Mut machen, aber es ist derzeit nicht leicht, einen Platz zu erhalten. Fünf bis sechs Monate Wartezeit sind die Regel“, gibt die erfahrene Therapeutin unumwunden zu, „Aber die allermeisten Praxen führen Wartelisten. Lassen Sie sich ruhig bei mehreren aufnehmen.“
Eine weitere Alternative: Ein Erstgespräch ist immer möglich. Bei diesem Akuttermin steigen Patient:innen zwar noch nicht in eine länge Therapie ein. Aber ein erster Austausch mit dem oder der Therapeut:in, der Werkzeuge an die Hand gibt, ist sinnvoll. Im allergrößten Notfall hilft zudem die psychiatrische Ambulanz im örtlichen Krankenhaus.
Was erwartet mich beim Therapiegespräch?
Soviel vorweg, die Gesprächssituation ist angenehm. In der Regel sitzt man bei einer Therapiesitzung in einem bequemen Sessel, dem Gesprächspartner gegenüber. Keine kalte, ärztliche Atmosphäre verhindert, dass man sich öffnet. „Ich kann verstehen, dass das Betreten einer Psychotherapiepraxis für viele eine Hürde darstellt. Aber man stellt schnell fest, dass die Sorge unbegründet ist. Natürlich ist die Situation befremdlich, denn man hat sein Gegenüber noch nie gesehen. Dennoch bekomme ich intuitiv ein Gefühl, ob es menschlich passt“, sagt Keßel, die die Praxis gemeinsam mit ihrer Kollegin Olivia vor dem Brocke betreibt. Eine tragfähige Therapeut-Patient-Beziehung sei das A und O – sogar noch wichtiger als die Methode.
Therapie-Methoden
„Häufig und mit gutem Erfolg wird die Verhaltenstherapie angewandt – bei Ängsten wie Depressionen“, erklärt die Mitinhaberin einer psychologischen Praxisgemeinschaft. Bei dieser Therapieart sollen alte Denk- und Verhaltensmuster durchbrochen werden. Dabei hilft ein ganzer „Werkzeugkoffer“, der Betroffenen an die Hand gegeben wird: Handelt es sich zum Beispiel um Phobie oder Panik, hilft es, sich der Situation bewusst auszusetzen, damit ein Gewöhnungseffekt eintritt. Bei Depressionen kann eine feste Tagestruktur sinnvoll sein. Auch eine bewusste Atmung lässt Ängste schwinden.
Ein wichtiger Bestandteil der Heilung ist die sogenannte Psychoedukation: Patient:innen erhalten dabei Informationen zu ihrem Krankheitsbild. Fragen werden beantwortet wie: Was ist das für eine Belastungsstörung? Wie entsteht sie? Wie wird sie aufrechterhalten? „Wer begreift, was hinter einer Angst oder Depression steckt, hat häufig ein Aha-Erlebnis und empfindet die Situation als weniger dramatisch“, äußert sich Keßel. Viele hätten beispielsweise Angst, bei Panik in Ohnmacht zu fallen. Dabei wird vom Körper so viel Adrenalin ausgeschüttet, dass das nicht passieren kann.
Einen Schritt weiter geht die Schematherapie. Hier geht es darum, welche Erfahrungen man als Kind gemacht hat und welche musterhaften Gedanken und Verhaltensweisen daraus resultieren.
Zusätzliche Hilfe
Auch online bieten sich sehr gute Hilfsmöglichkeiten, findet die niedergelassene Psychologin. Spezielle Apps helfen bei konkreten Störungsbildern. Etwa bei Depressionen, Ess- oder Schlafstörungen. Wer Zeit und Muße hat oder ein Tech-Typ ist, findet hier eine erste Anlaufstelle.
Eine andere Möglichkeit: Selbsthilfegruppen. Übers Internet oder die Krankenkasse findet man unterschiedlichste Angebote. Auch in unterschiedlicher Qualität, warnt Keßel. Zu manchen Treffen kommen nur Patient:innen in loser Organisation zusammen. Andere wiederum werden angeleitet durch Psycholog:innen oder sind an Kliniken angeschlossen.
Worauf sollte ich achten?
Neben der Qualifikation sind der Frankfurter Psychologin drei wichtige Fragen bei der Therapeutensuche wichtig: Fühle ich mich wohl? Habe ich Vertrauen zu der Person? Fühle ich mich kompetent beraten? „Natürlich kann eine Therapie aufwühlen. Man geht auch nicht immer mit einem guten Gefühl dort raus. Aber tendenziell sollte man den Eindruck haben, dass es sich zum Positiven wendet.“
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