Es ist die wohl bekannteste Börsenweisheit der Welt. In diesem Jahr könnte sie sich bestätigen. Aber war das immer oder wenigstens meistens so?
Von Antje Erhard
„Sell in May and go away, but remember to come back in September.“ Das ist eine der ältesten Börsenweisheiten überhaupt. Sie bedeutet, dass du zwischen Mai und Oktober investiert nicht sein musst, weil das die schwache Periode an der Börse ist, dass du aber die Phase steigender Kurse ab Herbst wieder mitnehmen sollst.
Daten scheinen das zu belegen: Im S&P 500 stand denn auch zwischen Mai und Oktober 2011 – im Zuge der Finanzkrise – ein Minus von 8,1 Prozent auf den Kurslisten; 2015 waren es ‑0,3 Prozent. In den Jahren 2012, 2016, 2018 und 2019 war die Performance positiv, aber unterdurchschnittlich, während zwischen Oktober und April ein Plus von durchschnittlich sieben Prozent steht.
Anders hingegen 2020: Da war Sell in May keine gute Idee. Wer da aus dem Markt ausgestiegen ist, hat eine Rally von 12,3 Prozent verpasst, im Jahr 2013 von zehn Prozent. Also Licht und Schatten an der Wall Street im Mai bzw. ab Mai.
Und beim DAX? In 18 von 33 Jahren fiel der DAX zwischen Mai und September, ergab eine Auswertung von Fidelity International. In den verbliebenen 15 Jahren stieg der Leitindex. Was aber nicht heißt, dass danach die Kurse nicht auch fallen können …
So steht es um diesen Mai
In diesem Jahr könnte sich die alte Weisheit aber mal wieder bewahrheiten: Der Mai verläuft bis dato äußerst ruppig. Fast 1000 Punkte liegen zwischen dem höchsten und dem tiefsten DAX-Stand im bisherigen Monat.
Das Besondere ist, dass Aktien, Anleihen, Kryptos und Edelmetalle – also die wichtigsten Anlageklassen – gleichzeitig fallen. Das ist selten. 2008 in der Finanzkrise war das so, dass nahezu alle Assetklassen gesunken sind. Und 2020 zu Beginn der Corona-Pandemie. Die Sorge, dass die Zinserhöhungen die Wirtschaft belasten, ist hier der Stimmungskiller Nummer 1. Und kommt on top zu den bestehenden Problemen: anhaltende Pandemie, Lockdown in China, Lieferengpässe, Inflation, Krieg in der Ukraine … Das alles sind bereits Belastungen für die Aktienmärkte.
Früher war alles anders…
Früher hatte diese Börsenweisheit durchaus ihre Berechtigung. Damals war in der Landwirtschaft zwischen Mai und Oktober viel zu tun – für Börseninvestments blieb da keine Zeit. Und kein Kapital. Mit Smartphone und Neobrokern ist heute eine neue Welt entstanden. Außerdem seien „früher“ die Finanzmärkte weitgehend unter sich gewesen. Sie waren losgelöst von den noch wenig bedeutenden Schwellenmärkten, und die Geldpolitik sei lediglich Schiedsrichter gewesen und habe die Rahmendaten für Finanzmärkte und Wirtschaft gesetzt, sagt Robert Halver, Leiter der Kapitalmarktstrategie der Baader Bank und profunder Kenner der Aktienmärkte.
Warum dann also nicht „Sell in May“? – Nun, die Vergangenheit ist keine Blaupause für die Zukunft. Einerseits. Andererseits haben sich die Zeiten geändert. „Heute würden professionelle Anleger und Hedge-Fonds jede halbwegs funktionierende Börsenregel durch entsprechende Spekulation zerstören“, gibt Robert Halver zu Bedenken. Außerdem gäbe es „New kids on the Block“. Das heißt, dass Schwellenländer wie China geopolitisch und wirtschaftlich systemrelevant seien und nicht auf den Kalender und den Mai schauen.
Die Notenbanken nehmen mehr Einfluss
Auch der Einfluss der Notenbanken sei heute völlig anders: „Aus Schiedsrichtern sind die eigentlichen Spielmacher an den Börsen geworden. Egal, ob Immobilien‑, Finanz‑, Schulden- und Bankenkrise, ob Brexit, Handelskrieg oder die Euro-Rettung, mittlerweile muss die Politik Eigentore und Niederlagen nicht nur saisonal, sondern an 365 Tagen im Jahr verhindern. Auch in der heißen Jahreszeit ist die Rettungspolitik nicht im Lockdown, was die Finanzmärkte stützt.“
Doch aktuell sieht es an den Börsen düster aus. Könnte sich die alte Regel Sell in May also doch wieder bewahrheiten? Einerseits würden die Notenbanken keine harte Inflationsbekämpfung zulassen, weil die Risiken zu groß seien von Überschuldung, Konjunktur-Schwäche bis Ukraine-Krieg. Andererseits gäbe es nach wie vor Anzeichen für einen verregneten Börsen-Sommer: brüchige Lieferketten, Rohstoffknappheit, Covid-Lockdowns. „Doch wenn zum Beispiel China seine coronale Wirtschaftsschließung lockert, kann sich der Spieß vor allem für Konjunkturwerte wieder umdrehen“, so Halver.
Keine Gewissheit über den Mai – aber doch auch Chancen
Aber auch Unangenehmes könne passieren. „Die große Unbekannte ist die Kriegsentwicklung in der Ukraine mit all ihren Konsequenzen für Energieversorgung und ‑preise.“ Und so sagt Robert Halver: „Es gibt also grundsätzlich keine Gewissheit, wie sich die Börsen ab Mai entwickeln. Insgesamt macht es für Anleger keinen Sinn, auf diesen saisonalen Börsenkalauer zu setzen. An der Börse wird nicht geklingelt wie auf dem Schulhof, um zu wissen, wann die Pause beginnt und wann sie vorbei ist. Ansonsten gäbe es an der Börse nur noch Millionäre.“
Auch wenn die Kurse fallen, bieten sich vielleicht hier und da Kaufgelegenheiten, denn die Kapitalmärkte funktionieren vor allem langfristig für die Geldanlage. Bei gefallenen Kursen können sich langfristige Sparpläne durchaus lohnen. Oder wie Robert Halver sagt: „Im Einkauf liegt der Gewinn.“
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