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Regisseurin Antonia Kilian: „Ein Land ist nur frei, wenn die Frauen frei sind“

Antonia Kilian, Regisseurin und Kamerafrau
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Antonia Kilian hat einen aufwühlenden Dokumentarfilm gedreht – über Hala, eine junge Freiheitskämpferin in Syrien. 14 Preise hat er schon gewonnen. Uns hat die Regisseurin und Kamerafrau erzählt, was sie beim Dreh erlebte und was sie noch vorhat.

Von Nadine Regel

Ich habe immer eine Waffe bei mir – und eine Granate zum Selbstschutz“, sagt die junge Frau in der flaschengrünen Polizeiuniform zu ihrer Kollegin auf der Wache. Die beiden sind Polizistinnen im nordsyrischen Ort Manbidsch, einer extrem krisengebeutelten Region. „62 Männer aus meiner Familie, meine Cousins, sind dem IS beigetreten. 40 wurden getötet, der Rest kämpft immer noch“, erzählt die Frau weiter. Täglich bekomme sie Drohungen. „Lieber würde ich meine Granate zünden und sterben, als vom IS entführt zu werden.“ 

Die junge Frau heißt Hala. Sie ist Araberin, 20 Jahre alt, mit schwarzen Augen und ebenholzdunklem Haar, das sie zu einem französischen Zopf gebunden hat. Kopftuch trägt sie selten, und wenn, dann nur als Schmuck. Als ihr Vater sie zwangsverheiraten wollte, floh sie auf die andere Seite des Flusses Euphrat und nahm an einer Ausbildung in der Militärakademie einer kurdischen Frauenverteidigungseinheit teil. Nach der Ausbildung kehrt sie als Polizistin in ihre vom Krieg gezeichnete Heimatstadt Manbidsch zurück – und schwört, ihre Schwestern aus ihrem repressiven Elternhaus zu befreien.

Das sitzt. Das bewegt. Das ist die Geschichte, die die Regisseurin, Kamerafrau und Produzentin Antonia Kilian bei ihrem einjährigen Filmprojekt in Nordsyrien aufarbeitet. Das Ergebnis: ihr Film „The Other Side of the River“.

„Für Hala war es eine Horrorvorstellung, gezwungen zu werden, jemanden zu heiraten“, sagt Kilian, die Hala erst bei den Dreharbeiten kennenlernte und sie zu ihrer Protagonistin machte. „Superstark und mutig“, so beschreibt sie Hala. Deren Heimatstadt Manbidsch haben kurdische Milizen während des Syrien-Kriegs vom IS befreit. Die Ausbildung in der Militärakademie war für Hala und Sosan, eine ihrer neun Schwestern, der einzige Ausweg, um einer Zwangsheirat zu entgehen. Ihre acht anderen geliebten Schwestern mussten sie zurücklassen. 

Feministische Politik

Für ihren Film erhielt Antonia Kilian Ende Juni den Deutschen Filmpreis in der Kategorie Dokumentarfilm – mittlerweile die 14. Auszeichnung. „Wir widmen diesen Preis allen Frauen, die für Selbstbestimmung und Freiheit kämpfen, insbesondere aber Hala und ihrer Schwester Sosan“, schreibt Antonia Kilian nach der Verleihung auf ihrem Instagram-Account. Die 35-Jährige studierte Visuelle Kommunikation sowie Kunst und Medien an der Universität der Künste Berlin, Cinematographie an der Filmuniversität Babelsberg und am Instituto Superior de Arte in Havanna, Kuba. Aktuell pendelt sie zwischen Kassel und Berlin. 

Mit dem Erfolg ihres Films, der auf mehr als 40 Festivals gelaufen ist, habe sie „echt nicht gerechnet“, sagt Kilian. „Viele Zuschauer sind ganz überrascht, weil sie eine radikal feministische Politik nicht mit einem Land wie Syrien in Verbindung bringen.“ Der Film spielt in der de facto autonomen Provinz Rojava, die 2012 im Nordosten Syriens von den Kurden errichtet wurde. Diese beruft sich auf die feministisch ausgerichtete Ideologie von Abdullah Öcalan, dem geistigen Führer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), der seit 1999 in der Türkei inhaftiert ist. „Ein Land kann nur dann frei sein, wenn auch die Frauen im Land frei sind“, so die Idee, die in den Trümmern von Rojava erstmals ihre Umsetzung finden sollte. Für diese fragile Freiheit greifen auch Frauen zur Waffe – Kurdinnen wie Araberinnen. 

Antonia Kilian reiste 2018 als Teil einer internationalen Solidaritätsbewegung nach Rojava. „Ich wollte einen Film über die Revolution der Frauen drehen“, sagt sie. Sie wollte wissen, wie die Kurden ihre Vorstellungen von Autonomie und Emanzipation in einer arabisch bewohnten Region umsetzten. Sie reiste unter dem Protektorat der Frauenverteidigungseinheit. Alle Genehmigungen für ihren Aufenthalt liefen nur über Frauen. 

Konsequenter Schutz 

Die Kurden haben in Rojava eine Selbstverwaltung eingerichtet, in der die Gleichstellung von Mann und Frau einen hohen Stellenwert hat. Sie installierten Quoten für Frauen in politischen Institutionen, im Militär, in Krankenhäusern. „Die Einhaltung von Frauenrechten und der Schutz von Frauen wurde wirklich sehr konsequent angegangen“, sagt Kilian. Es gebe nun Einheiten in der Polizeistation, an die sich Frauen als Opfer häuslicher Gewalt wenden können, von Frauen geleitete Frauenhäuser, sehr viele Frauen in Führungspositionen, öffentliche Ächtung für das Schlagen von Frauen. 

Trotzdem sieht Kilian die Entwicklung realistisch. „Utopien wie diese erfordern jahrzehntelange Transformationsprozesse“, sagt sie. Und sie weiß auch, dass die kurdischen Milizen die ausweglose Situation der Frauen ausnutzten, um Kämpferinnen für ihre Armee und gegen den IS zu rekrutieren.

Andererseits könne man das auch als eine Form der Selbstermächtigung betrachten, meint Kilian. Ist es nicht gerade das, was den Frauen in vielen Regionen der Welt fehlt – die Möglichkeit, sich selbst zu befreien, auf den Tisch zu hauen und zu sagen: So nicht, das ist mein Leben, und ich will selbst bestimmen, wie ich damit umgehe!

Die Kameraeinstellung zielt auf den Unterrichtsraum der Polizeiakademie, einen offenen, weiß-himmelblauen Bau, überdacht und zum Innenhof fensterlos, nur mit Balken gestützt. Dahinter liegen Trümmer, Ruinen der Stadt, es mag auch ein Friedhof sein. Genau erkennen kann man es nicht. Die Kamera schwenkt über das Gelände, das aussieht wie eine verlassene Militärbasis. Nur die Wachtürme sind neu.

Losgesagt von Ehe und Liebe

Dann hört man, wie die jungen Frauen in der Akademie auf Ehelosigkeit eingeschworen werden. „Sexuelle Begierde führt die Menschheit in den Abgrund“, vermittelt eine Ausbilderin im Lehrraum. „Ich glaube nicht mehr an die Idee von Ehe und Liebe, verspreche, dass ich mich für unsere Aufgabe aufopfern werde“, sagt eine der Zuhörerinnen. 

Dazu muss man wissen: Hier finden junge Frauen zusammen, die von ihren Männern gedemütigt, vergewaltigt oder geschlagen worden sind. Die zwangsverheiratet oder Zeuginnen von Misshandlungen wurden, wie Hala es eindrucksvoll beschreibt, als sie von der brutalen Steinigung einer Frau berichtet. Vor den Augen des gesamten Dorfs wurden auch der Vater und die zwei Kinder der nach Scharia Verurteilten gezwungen, die eigene Tochter und Mutter zu quälen, die immer wieder ihre Unschuld beteuerte.

„Ich fühle mich erst emanzipiert, wenn alle Frauen im Nahen Osten, alle Frauen auf der Welt befreit sind“, skandiert die Ausbilderin. Die Zuhörerinnen klatschen Beifall. Die Befreiung der Frauen – es ist jetzt ihre Mission. 

200 Stunden Filmmaterial

Zwölf Monate bleibt Kilian in Rojava, erst in der Polizeiakademie, dann begleitet sie Hala nach Manbidsch, sammelt 200 Stunden Filmmaterial, „das ich gefilmt habe, ohne zu wissen, was gesprochen wurde“, wie sie angibt. Erst bei der Sichtung und Übersetzung erfuhr sie, was die Protagonistinnen überhaupt sagten. Gedreht habe sie fast immer allein, ein Team konnte sie sich damals nicht leisten. Zu Beginn hatte sie auch keine Finanzierung für ihren Film. Die ergab sich dann über befreundete Produzenten im Verlauf der Dreharbeiten. 

„Ich habe versucht, alles so gut wie möglich vorzubereiten – was dann beim Dreh passierte, konnte ich nicht mehr steuern“, sagt die Filmemacherin. „So zu drehen hat viele Nachteile, aber auch Vorteile: Die Menschen sind entspannt und natürlich, und es können sich Dinge zufällig ergeben, die man sonst nicht hätte filmen können“, sagt Kilian. Letztlich sei es schlicht die einzige Möglichkeit gewesen, den Film überhaupt zu produzieren. Die Herangehensweise erlaubte ihr auch, über das propagandistische Bild hinauszublicken und der Realität ein Stück näher zu kommen.

„Ich war reine Beobachterin“, sagt Kilian. Obwohl sie eine starke Sympathie empfand, versuchte sie kritisch zu bleiben, wenn auch mit einer solidarischen Grundeinstellung. Sie habe in der Türkei als Wahlbeobachterin gearbeitet, viel Zeit in Georgien verbracht. „Die Region steht mir nahe und auch die feministische Ideologie“, sagt sie. Bereits 2016 drehte sie einen Film in Amed in Nordkurdistan, in dem sie die kurdische Frauenbewegung porträtierte. Der Film heißt „Xwebûn“, was so viel bedeutet wie Selbstwerdung oder Selbsterkenntnis. Erst wenn sich Frauen ihrer Ungleichbehandlung bewusst würden, könnten sie sich dagegen wehren, so Kilian.

Eine Problematik, für die man nicht erst nach Nordsyrien reisen muss, weiß die Regisseurin. „Der Kerngedanke von Feminismus ist es, ein antipatriarchales System zu kultivieren“, sagt sie. „Auch in Deutschland gibt es noch viel zu tun, speziell in meiner Branche.“ Für Filmemacherinnen sei es notwendig, sich zu vernetzen und für gemeinsame Ziele zu kämpfen. Für gleiche Bezahlung etwa, für Förderung, faire Konkurrenz zwischen Kamerafrauen und ‑männern sowie Mutterschutz. „Ich engagiere mich zum Beispiel bei ProQuote Film“, sagt Kilian. Der Verein setzt sich dafür ein, dass sich der Frauenanteil in allen Bereichen der Filmproduktion erhöht. Konkret heißt das, Zahlen zu sammeln, die Ungleichheiten belegen, und ein Quotensystem zu entwickeln, durch das Männer und Frauen in gleichem Maße gefördert werden.

Besorgt um Hala

An ihrer eigenen filmischen Zukunft bastelt Kilian indes weiter. Einerseits plane sie weitere Filmprojekte mit Freunden. „Der Experimentalfilm interessiert mich besonders“, sagt sie. Parallel zu Regie und Produktion arbeite sie auch als Kamerafrau an Projekten anderer Regisseure und Regisseurinnen. Das sei überschaubarer, weniger aufwendig. „Und es ist leichter, mit Bildgestaltung sein Leben zu finanzieren, als mit der Produktion von Dokumentarfilmen“, gibt sie zu.

Und Hala, ihre Protagonistin? Die hat noch nicht geheiratet. „Aber ich bin ziemlich besorgt um sie“, sagt Kilian. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat wiederholt Angriffe auf Halas Stadt angekündigt. Er lehnt eine kurdische Autonomie in Syrien ab, der Kampf gegen die PKK gehört zur türkischen Staatsräson. Eins ist sicher: Die Themen werden Antonia Kilian so schnell nicht ausgehen.

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