Angesichts dieser Buchhandlungen möchte man nie wieder im Internet bestellen. Ein Plädoyer in neun Beispielen.
Von Michael Hannwacker
Erste These: Nutzer von Druckwerken sind angenehmere Menschen als Internetsurfer oder Computerspieler.
Zweite These: Wirklich anständig ist der, der sein Buch im Laden kauft und nicht etwa im Netz bestellt. Beides ist natürlich Quatsch.
Andererseits: Warum sollte man auf das Erlebnis verzichten, ein Reich der Sinne zu betreten, in dem es nach Druckerfarbe, Papieren und Klebern duftet und man umgeben ist von zahllosen schmalen Rücken, hinter denen Abenteuer, kurioses Wissen oder einfach Schönheit warten? Und aus dem man alles, was Interesse weckt, mitnehmen darf?
Wahr ist aber auch: Manche Buchläden sind schöner als andere. So wenig sich etwa Bahnhofsbuchhandlungen – trotzdem ein Hoch darauf, dass es sie gibt – dem Zauber des gedruckten Worts hingeben, so hingebungsvoll bemühen sich andere um eine Aura, die die Entdeckerlust begeisterter Bücherwürmer befördert. Dabei sind die spektakulärsten Schatzhäuser fast so verschieden wie die Inhalte der Bücher, die sie anbieten.
Der gemeinsame Nenner sind Regale. Alles andere ist so frei wie die Gedanken, die sich zwischen den Deckeln der darin aufgereihten Bücher entfalten.
Dazu passt, dass gleich das erste Geschäft in unserer Auswahl von einem Architekturbüro, nämlich Wutopia in Shanghai, konzipiert wurde, das seine Stilrichtung als „Magischer Realismus“ bezeichnet. Besser könnten wir nicht beschreiben, was wir im besten Fall von einem Buch erwarten.
Und niemand sage, dass das damit einhergehende Gefühl nicht auch von einer besonderen Buchhandlung unterstützt werden kann. Ihre Verkaufszahlen dürften darunter kaum leiden. Im Übrigen kommen sie auch bei Social-Web-Usern gut an. Warum? Sie sind „highly instagramable“.
Das Hochgefühl
Vielleicht nicht ganz die größte, zweifellos aber die höchste und eiligste Buchhandlung weltweit. Nach Fertigstellung der Räumlichkeiten benötigten 150 Arbeiter:innen 15 Tage, um 260 Tonnen Regale auf die 52. Etage des 632 Meter hohen Shanghai Tower zu schleppen und zehn weitere, um sie aufzubauen.
Anschließend füllten sie 35 Mitarbeiter:innen binnen vier Tagen mit 60 000 verschiedenen Titeln in über 2200 Quadratmeter großen Räumlichkeiten. Dann war das Projekt mit dem auch wörtlich zu verstehenden Namen „Books Above The Clouds“ realisiert. Seit zwei Jahren streben nicht nur Bibliophile zu den Aufzügen. Denn Einsichten und Aussichten sind hier oben einigermaßen einzigartig.
Duoyun Books, Shanghai, Floor 52, Shanghai Tower, 501 Yincheng Mid Road

Livraria da Vila, São Paulo, Alameda Lorena 1731 Quelle: Leonardo Finotti
Die Überraschung
Glas und Beton. Das sind zwei der Materialien, derer sich Isay Weinfeld, vielleicht Brasiliens bedeutendster zeitgenössischer Architekt, bevorzugt bedient. Hier kommt noch eines hinzu: Bücher.
Pünktlich jeden Morgen um 10 Uhr öffnet sich unter einer zweistöckigen Betonwand ein übermannshohes Regal zu fünf Drehtoren und gibt Einlass in ein neonhelles, vertikal mehrfach durchbrochenes Reich der Literatur.
Niedrige Decken und gemütliche Lesesofas sorgen fast für eine Wohnzimmeratmosphäre. Dass sich die Buchhandlung auf brasilianische Titel konzentriert, sollte nicht des Portugiesischen mächtige Besucherinnen und Besucher nicht abhalten. Sie erleben in jedem Fall einen entrückten Ort in der südamerikanischen Megacity.
Livraria da Vila, São Paulo, Alameda Lorena 1731, livrariadavila.com.br
Das Bücherschiff

The Book Barge, Chitry les-Mines Quelle: Sarah Henshaw
Der „Guardian“ nannte den kleinen Kahn einmal „quite possibly the coolest bookshop in the UK“. Damals war die südafrikanische Ex-Journalistin Sarah Henshaw auf britischen Gewässern unterwegs. 2016 überquerte sie den Ärmelkanal und machte zuletzt auf dem Canal de Nivernais im Burgund fest. Wie lange sie dort bleibt? Who knows?
Ihre schwimmende Buchhandlung aber hat ihre Aura behalten. Ihr Angebot ist übersichtlich, schließlich lebt die schwimmende Buchhändlerin auch auf ihrer „book barge“. Gut möglich, dass sie ihre Abenteuer selbst zwischen zwei Deckel bindet. Mark Twain wäre begeistert.
The Book Barge, Chitry les-Mines, thebookbarge.com

Morioka Shoten, Tokio, I‑28–15 Ginza, Chuo-ku Quelle: Miyuki Kaneko/Nacasa & Partners Inc.
Der Einzelfall
Das ist die radikale Antithese zu Books Above The Clouds, dem Megastore in Shanghai. Die Buchhandlung (shoten) von Yoshiyuki Morioka hat nicht 60 000 Titel zur Auswahl, sondern nur einen einzigen, den allerdings in ausreichender Anzahl und jede Woche einen anderen.
Unterstützt wird das im wahrsten Sinne einfache Angebot jeweils von einer kleinen Kunstausstellung; so viel Platz ist dann doch in der kleinen Einraumgalerie in einer Seitengasse des Tokioter Einkaufsviertels. Und es gibt jeden Abend eine Lesung. Nur eine Auswahl gibt es nicht. Entweder Sie kaufen das Buch oder Sie lassen es bleiben. Mehr Minimalismus geht nicht.
Morioka Shoten, Tokio, I‑28–15 Ginza, Chuo-ku, takram.com/projects/

Boekhandel Dominicanen, Maastricht Dominicanerkerkstraat 1 Quelle: Etienne van Sloun
Das Himmelreich
Aachens Nachbarstadt hat kein Problem mit der Umwidmung aufgelassener sakraler Räume. Im ehemaligen Kreuzherrenkloster etwa hat sich 2005 ein – übrigens sehr empfehlenswertes – Luxushotel eingerichtet.
Ärger traf es die hochgotische Dominikanerkirche. Seit 225 Jahren säkularisiert, musste sie nacheinander als Unterstellplatz und Reparaturwerkstätte für Fahrräder, Quartier eines Karnevalvereins und Schauplatz von Boxkämpfen herhalten.
Bis 2006 wieder Besinnlichkeit einkehrte: Im Mittelschiff ragt ein himmelhohes Bücherregal aus schwarzem Stahl auf; in die Apsis ist ein kleines Literaturcafé eingezogen. Anbetungswürdig.
Boekhandel Dominicanen, Maastricht, Dominicanerkerkstraat 1, libris.nl/dominicanen

Carturesti Carusel, Bukarest Strada Lipscani 55 Quelle: Cosmin Dragomir
Das Kurvenreich
In diesem Raum würde man sich selbst dann umsehen wollen, wenn es hier nur Blumenerde zu kaufen gäbe: ein ehemaliges Geldhaus im Zentrum der Hauptstadt, dessen Eigentümer von Ceausescu enteignet wurden und das dann als Warenhaus sozialistischer Prägung zusehends verfiel.
Doch nach der Restituierung an die Nachkommen der Bankiersfamilie verwandelte ein lokales Architekturbüro die Ruine in ein lichterfülltes Wunder in Weiß, dessen historistische Grundausstattung durch eine Sinfonie schwingender Balkone und Ufoförmiger Lichtkörper aufgelockert wird. Und dessen Angebot von Büchern über Tonträger und zeitgenössische rumänische Kunst bis zu einem Café unter dem Glasdach reicht.
Carturesti Carusel, Bukarest, Strada Lipscani 55, carturesticarusel.ro
Die Inspirationsquelle

Livraria Lello, Porto R. das Carmelitas 144 Quelle: Endless Travel/Alamy Stock Photo
140 Jahre. Die Institution macht keinen Hehl aus ihrem Alter. 2013 unter Denkmalschutz gestellt, scheint der wohlgemerkt von einem Ingenieur konstruierte Literaturbetrieb direkt dem Reich der Fantasie entsprungen.
Doch es verhält sich eher umgekehrt. Seit bekannt wurde, dass J. K. Rowling Anfang der 90er ein paar Jahre in Porto lebte, suchen Harry-Potter-Fans die überbordende, zwischen Neogotik und Art Nouveau irisierende Dekoration nach Hogwarts-Inspirationen ab. Der Andrang ist so groß, dass die bedrängten Betreiber ein Eintrittsgeld verlangen. Das bei Kauf eines Buches angerechnet wird.
Livraria Lello, Porto, R. das Carmelitas 144, www.livrarialello.pt

Libreria Acqua Alta, Venedig Quelle: Cheryl Howard
Das Untergangsszenario
Es ist nicht gerade so, dass sich Luigi Frizzo Hochwasser herbeiwünschte. Aber er benannte seinen Laden nach der „acqua alta“, verdankte vor allem ihr seine Popularität und wusste sich gegen sie zu wehren.
Damit das Überangebot aus Büchern, Landkarten und Magazinen Bodenberührung vermeidet, lagert es bis heute in wasserdichten Boxen oder auf der Gondel, die es irgendwie in die alte Lagerhalle im Stadtteil Castello geschafft hat. So sind sie geschützt, wenn der Rio della Tetta mal wieder anschwillt und in die Libreria drängt. Nur wer im Laden steht, bekommt nasse Füße. Außer den Angestellten. Die tragen Gummistiefel.
Libreria Acqua Alta, Venedig, Calle Lunga Santa Maria Formosa 5176b
Die Denkfabrik

John King Books, Detroit Quelle: Ryan M. Place
Im Erdgeschoss gibt es eine Abteilung, die unter anderem Literatur über die Geschichte von Michigan, Jugendromane und Kunst versammelt; im vierten Stock mischen sich irgendwo „humor“, „journalism“ und „sexuality“. Unverzichtbar also, dass Erstbesucher:innen einen Plan in die Hand bekommen, der ihnen den Weg zu diesem oder jenem Spezialgebiet in den endlosen Gängen weist.
1983 hat der Buchhändler John King die aufgegebene Fabrik von Advanced Gloves („Fortgeschrittene Handschuhe“!) 300 Meter nördlich des Detroit River gekauft und hält dort seitdem etwa eine Million Bücher vor. Wer hier nichts findet, will nicht lesen.
John King Books, Detroit, 901 West Lafayette Blvd., johnkingbooksdetroit.com
Bilder und Anregungen für diesen Beitrag verdanken wir dem jüngst erschienenen Bildband Do you read me? — Besondere Buchläden und ihre Geschichten, Hrsg.: Marianne Julia Strauss, 272 Seiten, gestalten, 39,90 Euro