Eigentlich wollte Mina Saidze die Welt retten – oder sie wenigstens ein bisschen besser machen. Als Teenagerin träumte sie davon, als Investigativjournalistin politische Intrigen aufzudecken oder in einer Hilfsorganisation Entwicklungsprojekte voranzutreiben. Heute arbeitet die Tochter politischer Aktivisten aus dem Iran und Afghanistan als Data Analyst – und hat ihre Mission gefunden: mehr Diversity in Tech! Sie will mehr Frauen für Datenanalyse und künstliche Intelligenz (KI) begeistern. Dafür hat sie Anfang des Jahres Inclusive Tech gegründet, europaweit die erste Lobby-und Beratungsorganisation für Diversity und Inclusion in Tech. Im Courage-Interview spricht sie darüber, wie man den eigenen Kleiderschrank zum Übungsobjekt für Data Science nutzt, wieso Algorithmen diskriminieren können und warum es gut ist, nicht immer überall reinzupassen.
Von Astrid Zehbe
Data Analytics – da denken die meisten an fürchterlich lange Excel-Tabellen, Diagramme und komplizierte Formeln. Was bedeuten Daten für Dich?
Mina Saidze: Ich liebe Daten. Daten sind super. Sie sind universell und nicht geografisch gebunden. Mit ihnen lassen sich Probleme erkennen, Phänomene verstehen und Entwicklungen vorhersagen, auf deren Basis man Lösungen erarbeiten kann. Daten sind viel mehr als nur Zahlen und ich liebe es, wie vielfältig ich als Data Analyst arbeiten kann – ich bin Reinigungskraft, Logistikerin, Künstlerin und vieles mehr.
Inwiefern?
Datensätze sind selten sauber. Das heißt, sie enthalten Datenfehler, die man korrigieren oder entfernen muss. Diese Bereinigung kostet viel Zeit, ist aber unwahrscheinlich wichtig für die Aussagekraft der Daten. Ich befördere diese Daten dann von A nach B beziehungsweise von einem Anwendungsprozess zum nächsten – das erfordert logistisches Geschick. Die Datenauswertung und ihre Interpretation ist wiederum ein sehr kreativer Prozess, es ist wie ein Gemälde zu erschaffen mit all den Datenmaterialien, die einem zur Verfügung stehen.
„Die Fähigkeit zu haben, Daten nutzbar zu machen, ist ein Werkzeug“
Warst Du schon in der Schule ein Zahlen-Nerd?
Gar nicht. Ich wollte eigentlich immer Investigativjournalistin werden oder aber in der Entwicklungsarbeit tätig sein. Meine Eltern waren politische Aktivisten im Iran und in Afghanistan. Mir war es immer wichtig dazu beizutragen, dass die Welt ein besserer Ort wird. Nach meinem Abi bin ich darum für ein Jahr nach Tansania gegangen und habe im Rahmen eines Freiwilligenprojekts Solaranlagen auf Dächern montiert. Zurück in Deutschland habe ich begonnen, Sozialwissenschaften zu studieren. Als ich eine Vorlesung in Ökonometrie besuchte, wusste ich: Das ist es! Die Fähigkeit zu haben, Daten nutzbar zu machen und sie analysieren und interpretieren zu können, ist ein wichtiges Werkzeug mit viel Gestaltungsmöglichkeiten. Genau das war es, was ich wollte.
Du hast dann das Studienfach gewechselt?
Ja, ich habe mich für Volkswirtschaft eingeschrieben und habe während meines Studiums die Berliner Digitalszene erkundet. Ich konnte mich dort super vernetzen, habe viel gelernt und natürlich erste Berufserfahrungen gesammelt – erst in den Medien, wo ich vor allem im Bereich Data Analytics tätig war, seit Anfang des Jahres arbeite ich nun als Data Analyst beim Online-Vergleichsportal idealo.
„Die hohe Männerquote ist beunruhigend“
Was genau ist dort Deine Aufgabe?
Bei idealo arbeite ich mit einem interdisziplinären Team an Datenprodukten, welche wir Markenpartnern anbieten. Meine Vorgesetzte kommt aus der Berliner Gründerszene und mein Kollege hat als Data Scientist für ein Hamburger Fintech gearbeitet. Das Tolle an der Aufgabe ist, dass wir als Inkubator an der Schnittstelle von Produktmanagement und Data Analytics tätig sind. Wir sind quasi ein Start-up im idealo-Ökosystem mit dem Ziel, aus den Daten Mehrwert für unsere Partner zu generieren.
Anfang des Jahres hast Du nicht nur Deinen Job gewechselt, Du hast auch Inclusive Tech gegründet, die erste Lobby-und Beratungsorganisation für Diversity und Inclusion in Tech in ganz Europa. Was macht Inclusive Tech? European Women in Data ist eine europäische Organisation mit der Mission, mehr Diversität in den neuen Datenberufen und der KI zu fördern. Unser Ziel ist es, den Gender Data Gap zu schließen. Bislang ist die Branche nämlich sehr männlich dominiert. Einer Studie der Boston Consulting Group aus dem Jahr 2019 zufolge sind weniger als ein Drittel der Frauen in Berufen rund um Big Data tätig. Das erschreckt mich und beunruhigt mich auch sehr.
Dass die Männerquote sehr hoch ist, war ja fast zu erwarten. Aber was genau beunruhigt Dich?
Es hat erhebliche Konsequenzen zur Folge: Künstliche Intelligenz, die ja von Daten lebt, kann frauenfeindlich oder rassistisch sein, wenn der Algorithmus dahinter nicht diskriminierungsfrei trainiert wird. Aktuell werden Technologien von weitestgehend männlich dominierten Teams entwickelt, sodass zum Beispiel bei digitalen Assistenten geschlechtsspezifische Vorurteile widergespiegelt werden. Darum ist es so wichtig, dass sich in Berufsfeldern wie Advanced Analytics, Data Science und Machine Learning mehr Frauen finden.
„Der Fokus liegt auf Gemeinschaft statt Wettbewerb“
Klingt nach einer Herausforderung, wenn man bedenkt, dass die meisten technischen Branchen eher von Männern dominiert werden.
Es ist zunächst einmal wichtig, Bewusstsein zu schaffen und all die Themen, die um Big Data und künstliche Intelligenz kreisen, als Chance zu sehen. Bislang wird in erster Linie der ökonomische Nutzen betrachtet – das ist aber eine sehr einseitige Sicht. Data Science kann einen Beitrag zur Gleichstellung der Geschlechter leisten – eben dann, wenn Algorithmen nicht (mehr) diskriminieren.
Das hätte dann ja auch einen ökonomischen Nutzen.
Auf jeden Fall, schon alleine, weil diese Gender oder auch Race Bias in Algorithmen zu Imageschäden von Unternehmen führen. Aber auch unabhängig davon: Diversität ist ein Wettbewerbsfaktor und es ist erwiesen, dass eine niedrige Diversität in Teams zu geringerem Output führt.
Wie genau fördert Ihr Frauen?
Wir bieten einerseits Förderprogramme für Quereinsteigerinnen in Kooperation mit Unternehmen an. Andererseits konzentrieren wir uns darauf, den Frauen einen Raum zu bieten, damit sie sich vernetzen können, beispielsweise über Meet-ups oder Symposien. Unser Fokus liegt auf Gemeinschaft statt auf Wettbewerb.
„Ich kaufe mittlerweile achtsamer“
Wenn ich mich spontan entscheiden würde, eine Karriere als Data Analyst anzustreben, könntet Ihr mir dann auch helfen, obwohl ich gar keinen Tech-Hintergrund habe?
Ja, im Prinzip schon. Was zählt, sind Deine Bereitschaft, Dich richtig reinzufuchsen, und Deine Begeisterung, die Dich dazu antreibt. In unseren Veranstaltungen geht es nicht um bahnbrechende KI, sondern um Praxisbeispiele aus dem Unternehmensalltag. Unternehmen stellen uns dafür einen Datensatz mit einer Problemstellung zur Verfügung. Der „Newbie“ – also in dem Fall Du – bearbeitet das dann unter Anleitung eines Mentors. Das kann zum Beispiel eine Umsatzprognose sein, bei deren Modellierung Verbesserungsbedarf besteht. Das ist viel besser als beispielsweise an der Uni, wo man immer schon bereinigte Datensätze bekommt, was in der Praxis selten der Fall ist. Außerdem kann man sich sein eigenes Data-Science-Projekt auch zu Hause suchen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was man mit Daten alles machen kann.
Zum Beispiel?
Ich habe während des Studiums meinen Kleiderschrank sowie mein Kauf- und Trageverhalten der Klamotten einmal genau unter die Lupe genommen. Um den Umgang mit Daten an einem Praxisbeispiel mit Mehrwert zu üben: Welche Kleidungsstücke besitze ich überhaupt? Welche Farben und welches Material haben sie? Zu welchen Gelegenheiten ziehe ich was an? Ich habe über einen gewissen Zeitraum notiert, wie oft ich welches Kleidungsstück trage, habe alles analysiert und meine Schlüsse daraus gezogen.
Was kam raus?
Dass ich zum Beispiel ziemlich viel Schwarz trage und es auch Kleidungsstücke gibt, die ich nur selten trage, so konnte ich mein Verhalten anpassen. Das war hilfreich, weil ich mittlerweile viel achtsamer einkaufe.
„Man muss nicht immer ins Bild passen“
Woher nimmst Du Deinen Einfallsreichtum und Deine stetige Inspiration?
Ich bin jemand, der ständig Neues lernen will und seiner Leidenschaft folgt. Dazu gehört eine Mischung aus Verstand und Herz − und eine ordentliche Portion Mut. Das habe ich schon früh von meinen Eltern mitbekommen – auch dass ich als Frau genauso wertvoll bin wie ein Mann. Dennoch passte ich als Tochter iranischer und afghanischer Einwanderer nicht so recht ins Bild des neuen Deutschlands und hatte es in der Schule darum nicht ganz einfach, was die Akzeptanz anging. Heute bin ich ganz froh, dass ich nicht reingepasst habe.
Weil es Dich stärker gemacht hat?
Ja, es hat mir vor Augen geführt, dass man nicht immer ins Bild passen muss. Es gibt ja auch in Datensätzen Ausreißer. Das ist normal. Die Frage ist, wie man damit umgeht? Belässt man den Ausreißer im Datensatz, um das Phänomen zu verstehen? Oder wirft man ihn raus, um ein homogenes Bild zu vermitteln? Ich habe gelernt, dass man nirgendwo reinpassen muss und trotzdem seinen Weg gehen kann. Es ist nur wichtig, seine Stimme zu finden!
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