Glennon Doyles neuer Bestseller „Ungezähmt“ folgt den Spuren von Doyles Kindheit, Ehe, Mutterschaft bis hin zu dem lebensverändernden Treffen mit ihrer zukünftigen Ehefrau, Abby Wambach. Das Buch beleuchtet zahlreiche Facetten moderner Weiblichkeit: Warum wir uns selbst verlieren. Und wie wir uns wiederfinden können.
Von Michaela Stemper
Das Wichtigste zuerst: Sie haben einen witzigen Instagram-Post aus einem Gespräch mit Ihrer Partnerin Abby (Anm. der Redaktion: amerikanische Fußball-Weltmeisterin Abby Wambach) veröffentlicht: „Bitte, ich liebe Dich. Aber können wir über irgendetwas anderes als „Ungezähmt“ sprechen? Egal was.“
Also habe ich überlegt: Worüber würden Sie denn gerne sprechen? Gibt es irgendwas, das Sie neuerdings interessiert oder etwas, das Sie vor Kurzem erfahren haben?
Glennon Doyle: Mein Gehirn ist derzeit völlig beschäftigt damit, dass wir auf Basis des Buchs eine TV-Show entwickeln. Also versuche ich herauszufinden, wie man eine Pilotsendung konzipiert. Das ist lustig und aufregend, aber gleichzeitig auch etwas recht Spezielles.
Es ist schon komisch, nachdem ich das Buch geschrieben und den Inhalt ja tatsächlich erlebt habe, dachte ich, dass dieser Teil der leichteste sein würde. Aber es fühlt sich an, als müsste ich noch mal neu anfangen. Es macht Spaß, etwas Neues, Kreatives anzugehen. Aber Abby ist manchmal zu bedauern: Jetzt haben wir das Buch gerade hinter uns gebracht und zack, noch mehr „Ungezähmt“.
Beim Lesen von „Ungezähmt“ fiel das Thema Kontrolle besonders auf: Selbstkontrolle und die Kontrolle über die Menschen, die man liebt. Vielen von uns scheint ebendiese Kontrolle in Quarantänezeiten zu entgleiten.
Welche neuen Gedanken zum Thema Loslassen und Gehenlassen haben Sie in einer Zeit, in der das buchstäblich alles ist, was man machen kann?
Wow, Treffer! Kontrolle und Liebe sind genau die Dinge in meinen Leben, die ich im Moment versuche zu verstehen. In meiner Beziehung zu Abby kam dieses Thema ziemlich früh auf.
Tatsächlich hatten wir gerade letzte Nacht eine Auseinandersetzung über eine dieser typischen Erziehungsfragen. Wir hatten ein langes Gespräch und Abby sagte: „Nur weil du eine Sache nicht magst, heißt das nicht, dass sie nicht richtig ist.“
Das Problem ist, dass ich eine sehr dominante Person sein kann. Wenn ich eine gewisse Vorstellung davon habe, was richtig und was falsch ist, tendieren die Menschen in meinem Umfeld dazu, eine ähnliche Sichtweise einzunehmen. „Okay, das klingt vernünftig“, sagen die meist, wenn ich mich äußere. Aber Abbys Vorstellungen weichen oft von den meinen ab und sie sagt definitiv nicht: „Oh, okay. Ich verstehe, was du meinst. Legen wir los.“
Also erklärte mir Abby: „Das ist keine verkehrte Erziehungsstrategie, bloß weil es anders ist als das, was du tun würdest.“ Und so dreht sich das Gespräch im Kreis: „Nur, weil Du eine gewisse Vorstellung davon hast, wie etwas sein sollte, heißt das nicht, dass das so auch richtig ist“.
Kontrolle ist ein wichtiges Thema. Jeder behauptet, einen ebenbürtigen Partner zu brauchen. Aber, wenn man den dann findet und selbst ein Kontrollfreak ist, wird es spannend.
Denn Diskussionsbedarf gibt es überall. Wie gehen wir mit Geld um? Wie mit Co-Parenting? Mit dem Exmann oder der Kindererziehung? Wie halten wir es mit unseren Karrieren? Ich habe eine sehr genaue Vorstellung davon, wie diese Dinge laufen sollten, und ihre Ideen sind ganz anders. Gerade deshalb habe ich mich in sie verliebt und lebe nun eine Beziehung, wie sie eigentlich sein sollte: eine permanente Herausforderung!
Es ist aber schwierig das auseinander zu dividieren, weil man einen Partner wählen möchte, der die eigenen Grundwerte teilt. Und dann muss man verstehen, wie unterschiedlich die beiden Wertevorstellungen sein dürfen. Das ist sehr kompliziert.
Es ist so kompliziert. Weil wir den Menschen wählen, der gut zu uns passt, und erwarten, dass sich keiner verändert. Aber das ist falsch, weil Menschen sich doch ändern und entwickeln sollten, richtig? Und ich kenne viele Leute, die frustriert sind, weil sie eben den Menschen geheiratet haben, den sie geheiratet haben. Aber der sich eben im Laufe der Zeit geändert hat.
Also, ich denke worauf es ankommt ist, dass du jemanden als Partner wählen musst, dem du voll und ganz vertraust. Bei allen Veränderungen musst du immer darauf bauen können, dass die Person der Beziehung verpflichtet ist – aber auch ihrem eigenen Wachstum.
Wenn du dein Leben so lebst, wie man es nun mal leben soll, dann werdet ihr beide euch ständig verändern. Und das bedeutet ein permanentes Anpassen und Verhandeln.
Ich denke, die Corona-Einschränkungen versetzen uns in eine Petrischale, eine Art Mikrokosmos. Wir haben keinerlei andere Abwechslung und verbringen viel Zeit miteinander. So werden auch die kleinsten Macken unter einem Vergrößerungsglas betrachtet.
Einerseits ist das gar nicht mal so schlecht, denn wir werden gezwungen, uns mit Verhaltensweisen auseinanderzusetzen, die wir ausgeblendet haben. Andererseits ist es einfach nur anstrengend.
Das führt zu einem Punkt aus dem Buch: Lerne Deinen Instinkten zu vertrauen und folge Deinem inneren Kompass und Deinen tiefsten Werten! Dann sprechen Sie davon herauszufinden, von welchen Grundüberzeugungen man sich vielleicht verabschieden sollte. Das herauszukitzeln, kann hart sein. Woran hält man fest?
Das Beste an den Vierzigern ist, dass man an dem Punkt ankommt, an dem man lernt, sich selbst zu vertrauen. Dieses innere Selbstverständnis, das einen nicht verlässt. Wer diesem Urinstinkt folgt, verhält sich im wahrsten Sinne des Wortes „ungezähmt“. Das heißt, ich werde mich nicht mehr von der Welt da draußen täuschen lassen. Oder mich zu Tode analysieren.
Ich vergesse nie, was eine meine Freundinnen zu mir sagte, als ich überlegte, wie ich mit Abby weitermachen sollte und immer wieder das Für und Wider abwog: „Okay, fühlt es sich warm an?“ Und ich fragte mich: „Was??? Was soll sich denn warm anfühlen?“ Und nun, sieben Jahre später, treffe ich selbst wichtige berufliche Entscheidungen bei Telefonkonferenzen unter dem Motto „Fühlst sich das warm an?“.
Ich lernte, diesem Körpergefühl und dem Instinkt mehr als dem analytischem Kopfdenken zu vertrauen. Aber ich denke ständig: Sobald man im Leben etwas verstanden hat, wird es beim nächsten Schritt wieder infrage gestellt. Also, da bin ich nun und lerne täglich, mir und meinen Instinkten zu vertrauen. Und in dieser Beziehung decken sich meine Instinkte eben nicht immer mit den ihren. Also vielleicht ist meine Grundüberzeugung, dass ich weiß, was richtig ist, doch nicht richtig.
Ich denke, es ist ein Unterschied, ob man sich als Individuum betrachtet, Teil einer Gruppe oder einer Partnerschaft ist. Abby war schon immer ein Teamplayer. Sie hat das Rudel im Blick, ich mehr den Leitwolf. Die Herausforderung liegt jetzt nicht darin, sie von meinen Ansichten zu überzeugen. Sondern es geht darum, ihre Ansichten zu akzeptieren. Und möglicherweise auch einen neuen Weg zu finden. Diese Vorstellung von Liebe basiert auf Vertrauen. Nur, wenn wir nicht vertrauen, versuchen wir zu kontrollieren.
Lassen Sie uns über Erziehung in Quarantänezeiten sprechen. „Frau“ schultert derzeit überproportional die Bürde der Kindererziehung – mehr als ohnehin schon. Das Pendel schwingt gehörig Richtung Mutter-Märtyrer-Dasein und Selbstverleugnung. Was würden Sie jemandem raten, der denkt: „Ich mache gerade alles falsch“?
Ich denke, wir sind auf dem Tiefpunkt angelangt. Und müssen zugeben, dass wir unser Leben nicht mehr managen können. Das ist nicht der richtige Moment zu sagen: „Ich mache einen schlechten Job“.
Wir wurden in eine buchstäblich unmögliche Lage versetzt: „Mach diesen Vollzeitjob.“ „Erledige Homeschooling für diesen Dreijährigen, während du den Vollzeitjob machst.“ Das ist nicht schwer. Das ist unmöglich, das geht nicht.
Ich hoffe, dass wir langsam an den Punkt gelangen, an dem Frauen aufhören zu versuchen, alles zu bewältigen. Und sich nicht permanent mehr Mühe geben, bloß weil wir das schon immer so getan haben. Ich wünsche mir, dass immer mehr Frauen sich bei Schulen und sonstwem melden und schlicht „nein“ sagen. „Streikt!“, will ich ihnen zurufen. Ein einfaches „Nein“ der Frauen wird die Wirtschaft zum Stillstand bringen. Das ganze System wird bröckeln und dann müssen wir neu anfangen. Ich hoffe, dass es diesmal nicht nach dem „try harder“-Prinzip läuft.
Das ist eine andere Facette von Kontrolle, oder? Ich kann mich selbst kontrollieren, indem ich härter arbeite. Ich kann mich selbst kontrollieren, indem ich überzogenen Erwartungen besser entgegentrete.
Vielleicht müssen wir unsere alten Vorstellungen von Erfolg über Bord werfen. Ich habe schon immer gewusst, dass mein Job nicht darin besteht, die perfekte Mutter zu sein. Meine Hauptaufgaben teilen sich auf in Erziehung, Partnerschaft, Aktivistin zu sein und Schreiben. Buchstäblich fragt man sich doch jeden Tag: Was muss ich tun, um alle Bälle in der Luft zu halten und nicht komplett auszubrennen.
Ich glaube, wir müssen die Erwartungen runterfahren, versuchen, mental stabil zu bleiben – um jeden Preis. Weil wir nicht wissen, was als Nächstes kommt. Ich würde hier sogar von einer Triage in der Familie sprechen. Wir sind dabei, einen Tag nach dem anderen. Wie können wir einander lieben und füreinander sorgen, um es von heute auf morgen zu schaffen? Jetzt ist einfach der falsche Moment für Langzeitperspektiven.
Ein großer Teil von „Ungezähmt“ setzt sich auch mit Ihrer eigenen, weißen Hautfarbe und den damit zusammenhängenden Privilegien auseinander. Sie sagen, sie sähen den amerikanischen Rassismus deutlicher. Gibt es neue Aspekte, die Sie mittlerweile erkannt haben, die Sie heute noch im Buch ergänzen würden?
Nein, weil es das Beste war, was ich damals machen konnte. Ich schrieb die Kapitel zum Thema Rassismus vor etwa drei Jahren. Und durch meine Tätigkeit als Aktivistin schloss ich Freundschaften zu farbigen Frauen, die mir ehrlich ins Gesicht sagten, was die weiße Vorherrschaft mit mir als weiße Frau gemacht hat.
Der Teufelspakt, den wir als weiße Frauen eingehen ist, dass wir, um in die Nähe der Macht zu gelangen, gewisse Dinge ignorieren. Wir werden keine Fragen stellen. Wir werden nicht fragen, warum die Polizei mich beschützt und sie nicht. Warum sieht meine Schule so aus? Warum kämpfe ich für neue iPads für jedes Kind, wenn die Schule am anderen Ende der Straße nicht mal fließendes Wasser hat? Warum nicht? Die Mittäterschaft in dieser Ordnung hat uns weniger menschlich werden lassen. Ich denke, heute wäre ich viel mehr darauf eingegangen, wie „Weiß-Sein“ funktioniert.
Eine der Stellen, die am häufigsten aus meinem Buch zitiert wird, lautet: „Je mutiger ich bin, desto glücklicher werde ich.“ Meine Freundin Dr. Yaba Blay ist ebenfalls aktiv in der Anti-Rassismus-Bewegung. Ich verfolge ihre Arbeit, wie sie über die weiße Vorherrschaft spricht und oft dafür bestraft wird. Eben weil sie so unverhohlen darüber spricht, wird sie nicht mehr eingeladen. Sie erreicht, dass man sich als Weißer unwohl fühlt. Und ich bemerkte, je mutiger sie war, desto schlechter ging es ihr.
Rückblickend, wenn ich über diesen Satz nachdenke, finde ich, das ist eine wirklich privilegierte Art, Dinge zu betrachten. Je mehr eine Gruppe am Rande der Gesellschaft steht, desto weniger wird sie für Mut belohnt. Wenn ich darüber nachdenke, wie anders ich denke, geht es weniger um das Rassismus-Kapitel und mehr darum, wie mich meine Privilegien während der ganze Entstehung von „Ungezähmt“ auf eine Art beeinflusst haben. Es wäre nicht das Gleiche gewesen, hätte eine schwarze Frau oder jede andere farbige Frau das durchgemacht, was ich durchgemacht habe.
Zu guter Letzt, was bringt Ihnen im Lockdown Freunde oder Entlastung?
Hm, was entlastet oder erleichtert mich? Ich bin in der vertrackten Situation, dass ich buchstäblich mit meiner besten Freundin verheiratet bin. Es ist wie ein langer Übernachtungsbesuch mit Abby, der unglaublich viel Spaß macht.
Und, natürlich Lesen. Unzählige Ausreden zu haben, um einfach dazusitzen und zu lesen und sich nie deswegen schuldig zu fühlen, ist ein wahrgewordener Traum für mich.
Aber ich bin tatsächlich gut darin, alles so anzugehen, als täte ich es zum ersten Mal. Ich glaube, diese Herangehensweise kann in der aktuellen Situation sehr hilfreich sein.
Das Interview ist im Original bei Penguin Random House erschienen und wurde von Amy Blinker geführt.

Quelle: Rowohlt Verlag
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