Cassandre Berdoz, 28, ist die erste Frau, die jemals zur Nachtwächterin in Lausanne ernannt wurde. Dabei gibt es den Job, der in der Nacht über die Städter wacht, wohl bereits seit 1405. Weshalb dauerte das so lange?
Von Matthias Lauerer
In Rembrandt van Rijns „Nachtwache“ sind es 18 Mitglieder einer Stadtteilmiliz, deren Gesichter lebendig von der Leinwand springen. Deren Identitäten waren über Jahrhunderte in der Geschichte verschwunden. Erst 2009 tauchten sie wieder auf. Das Amsterdamer Rijksmuseum, das der „Nachtwache“ einen eigenen, immens großen Raum widmet, veröffentlichte vor 13 Jahren die Ergebnisse jahrelanger Forschungen über die Identität und den Hintergrund der Nachtwächtertruppe.
Fraglich, ob Cassandre Berdoz so etwas Ähnliches passiert und sich der Mantel des Vergessens auch einmal über sie und ihre Geschichte legen könnte. Heute, in dieser volldigitalen Zeit, in der jeder Foto- oder Videoschnipsel festgehalten wird. Und der Schnipsel von Berdoz ist sehr groß: Berdoz ist die erste Frau, die in Lausanne zur Nachtwächterin ernannt wurde. Obwohl es diese ehrenwerte Arbeit schon seit über 600 Jahren zu tun gibt.
Schnitzeljagd per Telefon
Macht man sich telefonisch auf die Suche nach Berdoz, wird es spannend. Zunächst der Anruf bei der Stadt Lausanne, wo man weiter verbunden wird. Dann derselbe Satz: „Guten Tag, ich würde gerne mit Frau Berdoz sprechen.“ Wieder wird man verbunden und verbunden und landet bei einem netten jungen Mann, der einem die Telefonnummer von Elsa Kurz diktiert. Die hätte sicherlich die Nummer von Cassandre, ist Kurz doch zuständig für alle Kirchen der Stadt. Wählt man diese Ziffern, nimmt mehrfach niemand ab. Also muss man sich auf das verlassen was die „New York Times“ Anfang 2022 über die neue Frau im Amt schrieb.
Mehrfaches Rufen in der Nacht
„Von den vier Seiten des Glockenturms schreit sie jede Stunde, kurz nachdem die große Glocke der Kathedrale geläutet hat. Sie hält sich die Hände vor den Mund, damit sich der Schall weiter ausbreiten kann, lehnt sich über die Brüstung und sendet ihre knappe Botschaft aus.“ Und weiter. „´Es ist die Nachtwächterin! Es hat gerade 10 Uhr geschlagen!´“ Oder im Original: „C’est la guette, il a sonné vingt-deux heures!“ 117 Euro bekommt sie pro Schicht für ihre Arbeit, die sie an drei bis fünf Nächten die 153 Stufen hinauf auf die Kathedrale der Stadt führt. Vier Mal ruft sie das pro Nacht. Dabei trägt sie einen schwarzen Hut und eine Laterne in der Hand. Ihr erster Ruf erschallte im August 2021 hoch über den Dächern der Stadt.
Kindheitstraum wird Wirklichkeit
Dabei war nach all den Jahrhunderten für lange Zeit nicht klar, dass die junge Frau diese Arbeit übernehmen darf. Und das kam so: Bereits als Schülerin darf sie einmal auf den Glockenturm und dem männlichen Nachtwächter bei der Arbeit zusehen und hören, was der ruft. Seitdem ist sie davon überzeugt: Das will ich auch einmal machen! Und es gelingt ihr Jahrzehnte später. Schuld trägt sicherlich auch ihre Mutter, denn die ist Kunsthistorikerin.
Nerven hilft
Sie erkundigt sich als nunmehr erwachsene Frau immer wieder, ob denn eine Stelle frei wird. Antwort erhält sie keine. Dann beginnt sie mit monatlichen Anrufen. Erst als Lausanne 2021 beschließt, diese Stelle auch für Frauen zu öffnen, hat sie Erfolg. 100 Bürger:innen bewerben sich: 80 davon sind weiblich.
Ausdauer im Kampf mit den Stadtoberen
„Ich denke, ich kann mit Sicherheit sagen, dass ich Ausdauer bewiesen habe“, sagt sie. Und weiter: „Ich rufe für alle Frauen, die nicht können.“ Ihre „normale“ Arbeit ist eine ganz andere: Sie arbeitet als Projektmanagerin in einer Kommunikationsagentur, wo sie unter anderem jedes Jahr die ´Nuit des Musées´, also die auch in Deutschland bekannte „Nacht der Museen“ organisiert. Die lokale Zeitung schrieb einmal über Cassandre: „Einheimischer als Berdoz kann man nicht sein. Sie ist im Schatten der Lausanner Kathedrale geboren, aufgewachsen und ausgebildet worden.“ Nun hat sie auch noch die uralte Tradition der Nachtwachenden aufgefrischt.
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